Betreff
Vorlage zur Anfrage der Stadtratsgruppe DIE LINKE vom 11.06.2024 - Übergang von Sozialleistungen nach SGB II zu Grundsicherung SGB XII
Vorlage
SzA/0330/2024
Art
Beschlussvorlage - AL

Der Beirat für Sozialhilfe, Sozial- und Seniorenangelegenheiten nimmt von den Ausführungen der Verwaltung Kenntnis.

 


Demographischer Wandel und Armutsgefährdung im Alter

Der demographische Wandel führt zu einer Verschiebung des sozio-demographischen Rahmens: Der sinkende Anteil jüngerer Menschen bei einer gleichzeitig steigenden Zahl älterer Personen bewirkt, dass die Bevölkerung insgesamt altert. Allein quantitativ betrachtet wird das Thema „Alter(n)“ bedeutsamer und ist somit zentrale Gestaltungsaufgabe für Kommunen.

 

Mit dem demographischen Wandel verändern sich auch die Lebensbedingungen und Lebens- bzw. Bedarfslagen älterer Menschen (Stichwort: Strukturwandel des Alters bzw. des Alterns). Die Lebensphase „Alter“ zeichnet sich durch große soziostrukturelle Unterschiede aus, was zu einer ambivalenten Situation führt. Einerseits sind ältere Menschen fitter, aktiver, besser ausgebildet und engagierter als jemals zuvor in der Geschichte und andererseits verbleibt eine Gruppe von Menschen, deren Leben durch finanzielle, gesundheitliche und soziale Faktoren eingeschränkt ist. Oftmals kumulieren viele der genannten Problemlagen.

Aufgrund des „Älter Werdens“ der geburtenstarken Jahrgänge der „Babyboomer-Generation“ wird die Bevölkerung im Seniorenalter perspektivisch zahlenmäßig am stärksten anwachsen. Mit größer werdender Zielgruppe steigt auch das Risiko zunehmender Armut im Alter bzw. der Bedarf nach finanzieller Unterstützung.

 

Gemäß einer Stellungnahme der Bundesregierung vom April 2023 ist die Armutsrisikoquote bei den über 65-Jährigen in Deutschland im Jahr 2021 mit 28,1 höher als die des EU-Durchschnitts gewesen. Diese belief sich schätzungsweise auf 27,4 Prozent. Um die Zahl der von Altersarmut Betroffenen zu senken, würden ältere Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht alleine bestreiten könnten, durch die Grundsicherung geschützt (Deutscher Bundestag - Altersarmut in Deutschland).

 

Gleichzeitig stellt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2019 fest, dass Leistungen der Grundsicherung im Alter von rund 60% der Anspruchsberechtigten – oder hochgerechnet etwa 625.000 Privathaushalten – nicht in Anspruch genommen werden. Anders formuliert: der Großteil an älteren Menschen nimmt keine staatlichen Unterstützungsleistungen in Anspruch und verzichtet darauf, Grundsicherung im Alter zu beantragen, obwohl es ihnen zusteht. Aufgrund ihres ‚Einbahnstraßencharakters‘ ist Armut im Alter besonders prekär. Denn Altersarmut ist meist unumkehrbar; älteren Menschen gelingt es in der Regel nicht, der Armut wieder zu entkommen.

Die Gründe für eine Nichtinanspruchnahme rechtlich zustehender Leistungen reichen von Unkenntnis, Unsicherheit im Umgang mit Behörden, über Stolz, Scham und Angst vor Stigmatisierung bis hin zu der Tatsache, dass die (vermeintliche) Belastung naher Verwandter vermieden werden soll.

Auch wenn die Anzahl der Grundsicherungsempfängerinnen und – empfänger in den letzten Jahren bundesweit gestiegen ist, bildet dies die Entwicklung der Armutsgefährdung im Rentenalter nur zum Teil ab. Denn ebenso steigt z.B. die Zahl der über 65-Jährigen, die Wohngeld beantragen bzw. in Anspruch nehmen (müssen).

 

Situation der Grundsicherungsempfängerinnen und -empfänger im Stadtgebiet Fürth

Seit 2019 bis Mai 2024 sind die Fallzahlen der Beziehenden von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII im Stadtgebiet Fürth kontinuierlich gestiegen (vgl. Anlage).

 

Über den genannten Zeitraum lässt sich folgende durchschnittliche Fallzahlenentwicklung feststellen:

Jahr

2019

2020

2021

2022

2023

2024

durchschnittliche Fallzahlen

1105

1140

1202

1350

1490

1546

 

 

Der sprunghafte Anstieg der Fallzahlen von 2021 auf 2022 und 2023 ist in erster Linie auf den Zuzug von ukrainischen Kriegsgeflüchteten nach Fürth zurückzuführen.

 

Übergang von SGB II zu SGB XII (Grundsicherung)

Eine valide rückwirkende Auswertung der Fallzahlen der „Rechtskreiswechsler“ von SGB II zu SGB XII der letzten fünf Jahre ist dem Jobcenter Stadt Fürth sowie dem Amt für Soziales, Wohnen und Grundsicherung mangels Auswertungstool in den Fachanwendungen nicht möglich.

In der Erfassung der Ursache der Hilfsbedürftigkeit seitens der Sachbearbeitung der Abteilung Soziale Hilfen des Amtes für Soziales, Wohnen und Seniorenangelegenheiten/ Sachgebiet SGB XII standen rund 30 % der Antragstellenden vorher im Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Entsprechend anteilig sind die Fallzahlen an „Rechtskreiswechslern“ insgesamt gestiegen.

In der Erfassung der Ursache der Hilfsbedürftigkeit haben rund 70 % der Antragstellenden andere Aspekte bei der Antragstellung angegeben.

Eine gesonderte Statistik zur Erfassung weiterer Indikatoren wie z.B. Motive und Zuwegung wird nicht geführt.

 

Prognosen für nächsten Jahre

Laut Informationen des Jobcenters Stadt Fürth werden rund 679 Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger in den nächsten fünf Jahren das Renteneintrittsalter erreichen.

 

Entsprechend der Abfrage von Personen im Leistungsbezug nach dem Geburtsjahr (ermittelt mit Datensatz vom 13.06.2024) zeigt sich folgende Entwicklung:

 

Geburtsjahr

1958

1959

1960

1961

1962

1963

Personenzahl

73

93

142

117

123

122

 

 

Fälle, die zum Stichtag der Abfrage des Datensatzes noch offen sind, werden nicht abgebildet. Die Abweichung zum tatsächlichen Bestand beträgt in der Regel aber nicht mehr als 10 %.

Die Abfrage von Personen im Leistungsbezug nach Geburtsjahr / Rentenalter lässt jedoch keinen unmittelbaren Rückschluss darauf zu, ob tatsächlich auch alle Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger ins SGB XII wechseln. Die Zahlen bilden somit nur einen Annäherungswert für tendenzielle Entwicklungen i.S. geschätzter Prognosen ab.

Konkrete Aussagen, wie viele Personen direkt Grundsicherung beantragen werden bzw. müssen, ohne zuvor Leistungen nach dem SGB II bezogen zu haben, sind nicht möglich. Für Prognosen ist auf einschlägige Forschungsarbeiten und Studien zu verweisen, die jedoch in ihren Ergebnissen einer gewissen Unsicherheit in den Vorhersagen unterliegen.

Laut einer Simulationsstudie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Auftrag gegeben durch die Bertelsmann Stiftung, wird das Altersarmutsrisiko bis 2036 über die Jahre hinweg ansteigen. Besonders hoch ist nach dieser Studie das Risiko für Personen mit geringer Bildung, alleinstehenden Frauen, Personen, die von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen waren, Personen mit geringen Anwartschaften in der Gesetzlichen Rentenversicherung oder mit Migrationshintergrund.

Im Allgemeinen kommt die Mehrheit der Studien zu dem Ergebnis, dass die Armutsgefährdungsquote bei Seniorinnen und Senioren zukünftig steigen wird. In der Konsequenz und unter Berücksichtigung der Fallzahlenentwicklung der letzten Jahre, rechnet das Amt für Soziales, Wohnen und Seniorenangelegenheiten mit einem weiteren Anstieg der Antragstellenden für Leistungen nach dem SGB XII und/ oder auch anderen finanziellen Hilfen wie z.B. Wohngeld.

Erstattungsansprüche der Kommunen gegenüber dem Bund bestehen gemäß § 110 SGB XII für die konkrete Leistung der Sozialhilfe. Refinanzierungsmöglichkeiten für den mit steigenden Fallzahlen einhergehenden Personal-, Organisations- und Verwaltungsaufwand gegenüber dem Land und dem Bund bestehen hingegen nicht.

 

Arbeitsaufwand und Personalausstattung

Durch die kontinuierlich gestiegenen Fallzahlen bei gleichbleibender Personalausstattung in der Sachbearbeitung hat sich der Arbeitsaufwand für die einzelnen Mitarbeitenden sowohl quantitativ als auch qualitativ vergrößert. Anders formuliert: Der Fallbestand pro Sachbearbeiter ist gestiegen. Auch sind die Fallkonstellationen komplexer geworden.

Momentan sind im Sachgebiet SGB XII insgesamt 11 VZÄ-Stellen mit der Sachbearbeitung betraut, wovon sich mehrere Personen (3 VZÄ-Stelle) in unterschiedlichen Stadien der Einarbeitungsphase befinden.

Auf eine eingearbeitete VZÄ-Stelle kommen derzeit im Durchschnitt rund laufende 200 Fälle mit steigender Tendenz, zusätzlich weiterer Aufgaben im Rahmen der Sachbearbeitung.

Die allgemeine demographische Entwicklung (Stichwort: Demographischer Wandel) sowie deren Auswirkungen (darunter v.a. die quantitative Steigerung der Bevölkerungsgruppe im Renten(eintritts)alter) lassen eine zusätzliche Arbeitsbelastung für das Sachgebiet SGB XII in Zukunft erwarten. Unter Berücksichtigung des Annäherungswertes der potenziellen „Rechtskreiswechsler“ von SGB II zu SGB XII sowie in Annahme eines steigenden Altersarmutsrisikos von Seniorinnen und Senioren, bedarf es perspektivisch weiterer personeller Ausstattung bzw. eines weiteren Stellenaufbaus im Amt für Soziales, Wohnen und Seniorenangelegenheiten. Um Stellenbedarfe systematisch erfassen und um strategisch planen zu können, entwickelt Referat IV / Amt für Soziales, Wohnen und Seniorenangelegenheiten ein Monitoring bzgl. der Fallzahlen und deren Entwicklung. In Zusammenarbeit mit dem Amt für Organisation und Digitalisierung kann auf Basis des Monitorings gezielter auf Bedarfe reagiert bzw. präventiv vorgebaut werden. Zur weiteren Deckung des aktuellen Personalbedarfs in der Sachbearbeitung SGB XII sowie zur personellen und organisatorischen Konsolidierung des Sozialamtes und des Sachgebiets SGB XII ist eine weitere VZÄ-Stelle in der Sachbearbeitung notwendig. Im Rahmen des Reorganisationsprozesses finden dazu Abstimmungen mit Ref II./ OrgA statt bzw. erfolgt enge Zusammenarbeit.

 

Zusätzliche Aspekte

Seitens des Jobcenters Stadt Fürth erfolgt eine Bewilligung der SGB II-Leistungen bis zum Erreichen der Altersgrenzen. Mit dem letzten Bewilligungsbescheid werden die Leistungsbeziehenden darauf hingewiesen, dass rechtzeitig die Altersrente und ggf. ergänzende SGB XII-Leistungen beantragt werden müssen. Zudem gibt es in der Arbeitsvermittlung ein spezielles Team 58+. Dieses ist für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger ab 58 Jahren zuständig und berät intensiv zu den altersspezifischen Themen, u.a. auch zum Thema Erwerbsunfähigkeit, das in dieser Altersgruppe häufiger auftaucht.

Eine spezielle SGBXII-Beratung kann von Seiten des Jobcenters Stadt Fürth u.a. aus rechtlichen Gründen nicht angeboten werden. Lediglich Informationen und Verweisberatungen an relevante Anlaufstellen sind möglich.

 

Das Thema „Altersarmut“ stellt zwar ein Handlungsfeld des „Seniorenpolitischen Gesamtkonzepts für die Stadt Fürth“ dar, ist jedoch noch nicht umfassend bearbeitet. Ziel des Amtes für Soziales, Wohnen und Seniorenangelegenheiten ist es, Beratungs- und Unterstützungsangebote für von Altersarmut betroffene Menschen zielgerichtet auf- und sukzessive sozialraumorientiert auszubauen. In Zukunft wird das Thema „Altersarmut“ somit ein Schwerpunkt der Arbeit des Amtes sein. Aufgrund dessen hat das Amt für Soziales, Wohnen und Seniorenangelegenheiten zum 01.02.2024 einen überplanmäßigen Bedarf von einem 0,27 VZÄ-Anteil (10,5 Stunden) für den Sozialpädagogischen Dienst der Abteilung Soziale Hilfen beantragt und auch bewilligt bekommen. Im Rahmen der Stundenaufstockung ist es u.a. Aufgabe des Sozialdienstes niedrigschwellige dezentrale Informationsangebote (z.B. Sprechstunden für von Altersarmut gefährdeter bzw. betroffener Seniorinnen und Senioren im Stadtteil) in Kooperation mit relevanten Stellen/ Trägern (z.B. in Zusammenarbeit mit den Koordinierten Stadtteilnetzwerken, Beratungsstellen freier Träger) zu organisieren und durchzuführen.

Darüber hinaus ist geplant Informationsangebote über Möglichkeiten finanzieller Unterstützungsleistungen sowie kostengünstiger teilhabefördernder Angebote im Stadtgebiet Fürth zu bündeln, aufzubereiten und auf geeigneten Wegen zu veröffentlichen. Dabei wird eine enge Zusammenarbeit den Leistungsabteilungen angestrebt.

Eine umfassende Betrachtung des Themas Altersarmut sowie ein zielgerichteter Auf- und Ausbau von (sozialpädagogischen) Beratungs- und Unterstützungsangeboten für von Altersarmut bedrohten bzw. betroffenen Menschen ist aus Sicht des Amtes für Soziales, Wohnen und Seniorenangelegenheiten sinnvoll und unterstützenswert.


Finanzierung:

Finanzielle Auswirkungen

jährliche Folgelasten

 

x

nein

 

ja

Gesamtkosten

     

 

nein

 

ja

     

Veranschlagung im Haushalt

 

 

nein

 

ja

Hst.      

Budget-Nr.      

im

 

Vwhh

 

Vmhh

wenn nein, Deckungsvorschlag:

 


DIW Wochenbericht

Studie Bertelsmann Stiftung

Fallzahlen Grundsicherung 2019-2024